Heute wäre Vater 100 Jahre alt geworden. Er wollte damit seine Tante einholen, die kurz vor ihrem 101. Geburtstag gestorben war. Leider hat er sein Ziel nicht erreicht.
Geboren und aufgewachsen zwischen den Weltkriegen, hat er wohl eine gute Kindheit gehabt. Zusammen mit vier Schwestern, den Eltern und seiner geliebten Großmutter wuchs er am Rande der Großstadt auf.
Natürlich haben die Jungs auch damals schon viel Unfug getrieben. Und einmal ist Vater gegen die ausdrückliche Anweisungen seiner Mutter über eine Mauer geklettert oder darauf balanciert, hat dabei das Gleichgewicht verloren und ist gefallen.
Da er den Zorn der Mutter fürchtete, hat er nichts gesagt und seine Schmerzen runtergeschluckt. Der Erfolg war, daß er durch dieser Verletzung bis zu seinem Lebensende immer mal wieder Probleme mit dem Knie hatte.
Deswegen hat er uns Kindern später beigebracht, egal welchen Blödsinn wir angestellt hatten, wir konnten jederzeit alles ohne Angst vor Strafe den Eltern beichten.
Der größte Einschnitt in seinem Leben war sicher der Einzug zum Militär mit Anfang Zwanzig. Er erlebte dort Kameradschaft, Zusammenhalt und die Schrecken des Krieges. Nach Ausbildung zum Flak-Schützen ging es über Italien und Jugoslawien bis nach Griechenland. Er hat nicht so viel über die Zeit gesprochen, doch einige Erlebnisse ließen ihn nicht los und er hat mir im Laufe der Jahre davon erzählt.
So wurde auf dem Weg durch Jugoslawien ein Fahrzeug seines Konvoi durch einen Sprengfalle beschädigt. Der Wagen wurde zur Reparatur ins nächste Dorf geschleppt und die SA erfuhr von dem Vorfall.
Sie trieben ein paar Bewohner zusammen, die Vater und seine Kameraden bewachen mußte. Es waren einfache Leute, Bauern, die unter den Folgen des Krieges litten. Durch Vaters „Unachtsamkeit“ entkamen zwei dieser Leute und die Truppe erhielt eine Standpauke eines SA Offiziers. Man holte Ersatz und später erfuhren sie, daß man die Menschen zur Abschreckung und Vergeltung für den Schaden aufgehängt hatte.
Kurz vor Ende des Krieges, lagen sie in Griechenland 24 Stunden unter russischem Beschuss. Die versprochene Hilfe kam nicht und etliche von Vaters Kammeraden starben an diesem Tag.
Diese und ähnliche Erlebnisse machten aus ihm einen überzeugten Pazifisten und er engagierte sich in der Gemeinde und bei der Telefonseelsorge.
Vater hatte eine einzigartige Gabe: unter seinen Händen erwachten defekte Kleingeräte (Wanduhren, Kassettenrekorder, Radios, und ähnliches) wieder zum Leben. Oft sahen die Sachen etwas anders aus als vorher, hatten zusätzliche Schalter, Buchsen oder Anschlüsse für Batterien, aber sie funktionierten perfekt und jahrelang weiter.
So haben wir Kinder gelernt, daß man seine Sachen pfleglich behandelt und schätzt und kaputte Dinge nicht direkt weggeworfen werden müssen, sondern man sich erstmal um eine Reparatur bemüht.
Sein ganzes Leben war Vater aktiv, pflegte den Garten, reparierte im und am Haus viele Sachen. Auch als Rentner legte er die Hände nicht in den Schoß: er lernte Funken mit allen dazu gehörenden Lizenzen und begann sich in die Welt der Computer einzuarbeiten.
Daneben waren Vater und Mutter viel auf Reisen: Griechenland, Frankreich, Schweiz, Kreta und viele Orte in Deutschland waren ihre Ziele. Und als Mitglieder bei den Naturfreunden legten sie manchen Kilometer zurück.
Auch wenn er in den letzten Jahren durch Mutters Krankheit und vor allem nach ihrem Tod langsam seinen Lebensmut verlor, kann man mit Recht sagen, daß mein Vater ein erfülltes Leben hatte.