Die Arbeit, die am Vortag mitgebrachten Bücher zu sortieren, gestaltete sich langwieriger als gedacht. Fast fünf Stunden war ich zusammen mit einem Kollegen vom Lager beschäftigt. Und wir haben eine Menge Staub geschluckt.
Was dabei alles zum Vorschein kam, war einfach unglaublich: Werke von Goethe, Schiller, Grass, Canetti und Böll lagen neben Büchern über die Entwicklung der Bundesrepublik, das Dritte Reich, die Judenverfolgung, Israel, Nicaragua, Literatur, Philosophie, Fotografie und Malerei.
Außerdem gaben uns private Dokumente und Fotos einen kleinen Einblick in das Leben des Buchliebhabers. Ich habe dabei und in den Tagen danach oft einen stillen Dank an den Verstorbenen gerichtet, daß ich so viel von seinem Leben und seinen Interessen erfahren durfte.
Auch diesmal fanden einige Bücher mein Interesse und landeten in meiner Tasche: Kurt Tucholskys Werke in einer schlichten Taschenbuchausgabe, Ulysses von James Joyce und das tolle Kinderbuch „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“.
Am schönsten aber fand ich diese Gesamtausgabe der Werke von Max Herrmann-Neiße. Obwohl der Autor mir völlig unbekannt war, habe ich die Bücher der tollen Optik wegen mitgenommen.

Als ich zuhause in einem der Gedichtbände blätterte, fiel mir die Kinnlade runter: wie kann ein Mensch nur so toll schreiben? So voller Gefühl und doch in schlichten Worten?
Vielleicht war dieses literarische Können, das Max Herrmann-Neiße schon als Schüler zeigte, ein Ausgleich für seine Kleinwüchsigkeit, unter der er Zeit seines Lebens litt. Geboren 1886 in Schlesien, war er in den 1920er Jahren einer der bedeutensten Literaten in Berlin.
1933 ging er nach London ins Exil und lebte dort von den Geldern eines reichen Gönners. Zwar verfaßte er weiter Gedichte, Prosa und Texte, konnte aber nicht mehr viel veröffentlichen. Er starb 1941 und sein Werk wurde vergessen.
In den 1980er Jahren entdeckte man ihn wieder und es gab Neuauflagen seiner Werke. Aus dieser Zeit stammen auch die Bücher, die ich jetzt in meine Bibliothek aufnehmen durfte.